
Monatsspruch Juni 2022
Lege mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel auf deinen Arm.
Denn Liebe ist stark wie der Tod. Hohelied 8,6 (L)
Das Siegel ist ein wichtiges Zeichen. Briefe mit rotem oder andersfarbigem Siegellack waren früher wichtig, um die Echtheit des Absenders und die Unversehrtheit anzugeben. Das Siegel musste erst „aufgebrochen“ werden. Urkunden waren nur gültig mit einem Siegel. Rechtlich ist jedes dienstliche „Siegel“ einzigartig, jede Kirchengemeinde besitzt eines. Wer es führen darf, ist genau geregelt. Aber was bedeutet ein Siegel für das Herz eines Menschen? Die Liebende drückt aus: Der Mann möge sie so wert halten wie seinen Siegelring, den er zur Beglaubigung von Urkunden an einer Schnur um den Hals trägt, so dass er auf seiner Brust ruht. Dicht an seinem Herzen. Und
er besiegelt die Liebe zwischen dem Paar. Und vor allem die Liebe zwischen Gott und den Menschen. Wir dürfen auf seinen Bund vertrauen, der am Sinai mit der Gabe seines Wortes besiegelt wurde, zuerst mit Mose und – mit hineingenommen in diesem Bund – mit Jesus Christus. In der Taufe wird der Name Gottes auf den Täufling geschrieben. Wir tragen sein Siegel, das unverbrüchlich ist und unser Leben in seinem Licht leuchten lässt. Für uns und für alle anderen, die es hoffentlich durch uns erkennen können.
Sibylle Sterzik, Berlin

Früher war alles schlechter!
Predigttext zum 5. Juni 2022
Pfingsten: Römer 8,1–2(3–9)10–11
Denn die da fleischlich sind, die sind fleischlich gesinnt; die aber geistlich sind, die sind geistlich gesinnt. Denn fleischlich gesinnt sein ist der Tod, doch geistlich gesinnt sein ist Leben und Friede. Römer 8,5+6
Konvertiten neigen dazu ihr altes Leben schlechtzureden. Das gilt auch für den Apostel Paulus: „Aber was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden erachtet. Ja, ich erachte es noch alles für Schaden gegenüber der überschwänglichen Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn. Um seinetwillen ist mir das alles ein Schaden geworden, und ich erachte es für Dreck, damit ich Christus gewinne …“ (Philipper 3,7f.).
Dabei ist das mit der rückwärtigen Schwarzmalerei ebenso eine Sache wie mit der rückwärtigen Schönfärberei: „Früher war alles besser!“ stimmt so wenig wie „Früher war alles schlechter!“ – „Wann wird es endlich wieder so wie es nie war?“, fragt der Schriftsteller Karl Ove Knausgaard – und weist darauf hin, dass wir uns die Vergangenheit und die Zukunft entlang unserer Wünsche (oder Ängste) konstruieren.
Wir sind gerade wieder an einer solchen Wasserscheide. Im Kontext des Krieges gegen die Ukraine wird viel von Zeitenwenden gesprochen: „Wir haben uns in Waldimir Putin getäuscht! – Jetzt sehen wir klarer!“ – „Wir waren naiv mit unseren Träumen vom Frieden ohne Waffen! – Jetzt sehen wir realistischer!“ – Manchen Umdenkenden wird gar öffentlich ein Wandel „vom Saulus zum Paulus“ nachgesagt.
Wir sollten gerade jetzt aufpassen, dass wir nicht in der Falle der Gegenüberstellungen landen. Denn auch wenn uns Paulus den Gegensatz des „alten Lebens im Fleisch“ und des „neuen Lebens im Geist“ plastisch vor Augen malt und auch wenn Zuspitzungen in Konfliktsituationen Sinn machen, so steht das Wirken des Pfingstgeistes doch für die Überwindung der alten Gegensätze von Tod und Leben, von Gesetz und Evangelium: Das alte Leben, in dem wir uns immer noch befinden,
ist bereits durchwirkt und durchweht durch die Kraft des neuen Lebens aus dem Geist. Aus dieser pfingstlichen Kraft sollten uns neue Perspektiven zuwachsen, die wir jetzt noch nicht vor Augen haben. Beten wir dafür!
Hannes Langbein, Pfarrer und Direktor der Kulturstiftung
St. Matthäus, Berlin

Lob der unerforschlichen Wege Gottes
Predigttext zum 12. Juni 2022
Trinitatis: Römer 11, (32)33–36
Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn „wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen“? (Jesaja 40,13). Oder „wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm zurückgeben müsste?“ (Hiob 41,3). Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Ameen.
Römer 11, (32)33–36
„Am ersten Tag deutete jeder auf sein Land. Am dritten oder vierten Tag zeigte jeder auf seinen Kontinent. Ab dem fünften Tag achteten wir auch nicht mehr auf die Kontinente. Wir sahen nur noch die Erde als den einen, ganzen Planeten.“ Mit diesen Worten beschreibt der erste muslimische Astronaut Sultan Ben Salman Al Saud die Erfahrung als Mitglied eines siebenköpfigen Teams der US-amerikanischen Raumfähre STS-51-G. Seine Weltsicht aus dem All berührt mich. Ein Blickwinkel voller Staunen, Weisheit und Einsicht – Erdung aus dem All-Raum.
Der Völkerapostel Paulus flog nicht in den Weltraum. Der universelle Blickwinkel rührt bei ihm aus einer tiefen Innenerfahrung. Er bringt sie in einer Formulierung zum Ausdruck, die sich nicht im Klein-Klein verfängt, sondern das „ta panta“, „Alles“ auf den Punkt bringt: „Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.“
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind Dimensionen der Präsenz des Einen Gottes. Gott ist der Poet der Welt, liebende Kreativität ohne die nichts wäre, was ist. Mit dieser kosmischen, alle Grenzen sprengenden Formulierung beschließt Paulus die berühmten „Israel-Kapitel“ 9 bis 11 des Römerbriefes. Es war ihm ein Herzensanliegen zu zeigen, dass die universelle Liebe Gottes, die sich in alle Völker der Erde ergießt und alle Menschen meint, in Israel ihren Ursprung nahm. Israel ist und bleibt der Augapfel Gottes.
Ähnlich wie heute muss es zur Zeit des Paulus antijüdische Anfeindungen gegenüber dem Gottesvolk gegeben haben. In frühen christlichen Gruppierungen war das überhebliche Vorurteil aufgetaucht, Gott habe sein Volk Israel verstoßen, und die Christen an dessen Stelle gesetzt. Paulus versucht, diesen Irritationen etwas entgegenzusetzen. Die Erwählung, der Bund Gottes mit Israel ist unverbrüchlich. Wie sonst sollten die Dazugekommenen darauf vertrauen können, dass sie es mit einem zuverlässigen und treuen Gott zu tun haben, wenn dieser Gott seinen früher gegebenen Versprechungen und Bindungen untreu würde?
Und an alle gerichtet: Also ändert euren Sinn, denkt in größeren Dimensionen. „Nicht einige wenige sind berufen, sondern alle!“, so formulierte es der Künstler Joseph Beuys.
Man muss das nicht verstehen! Einem verkopften Denken entziehen sich die Geheimnisse der Wege Gottes sowieso. Und ein Tauschhandel soll es eben auch nicht werden. Paulus erinnert an das alte Missverständnis, der Utilitarismus (lateinisch utilitas, Nutzen, Vorteil): Ich gebe Dir was, damit Du mir etwas zurückgibst. Es geht um Beziehung, nicht um Verträge. Gott um seiner selbst willen zu lieben – so wie auch seine Menschen und die ganze Schöpfung. Welch ein Reichtum. Was für eine Weisheit.
Pfarrerin Andrea Richter, Beauftragte für Spiritualität in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz

Gnade und Liebe
Predigttext zum 19. Juni 2022
Sonntag nach Trinitatis: Lukas 16,19–31
Es begab sich aber, dass der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben. Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. Abraham aber sprach: Gedenke, Kind, dass du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet, du aber leidest Pein.
Lukas 16,22.23.25
Als Christ kann ich diese Geschichte nur ganz schwer hören. Sie malt nur in schwarzer und weißer Farbe. Das passt nicht zu meinem Glauben. Ich glaube an eine andere Gerechtigkeit: Eine Gerechtigkeit, die die Gnade und Liebe kennt. Diese Gerechtigkeit kenne ich aus dem Evangelium, das gegen das Auge um Auge, das Hinhalten der anderen Wange setzt. Und ich kenne diese Gerechtigkeit von dem her, der die Geschichte vom reichen Mann und armen Lazarus erzählt.
Jesus erzählt diese Geschichte deswegen, weil er zeigen möchte, wie es in einer Welt ohne Gnade und Liebe zugeht. Wie es in einer Welt aussieht, die die Liebe zum Nächsten nicht kennt. Es ist doch so, dass ich aus meiner Position des habenden und gut lebenden sehr gut zu den Armen und Elenden herübersehen kann. Genauso wie man in der Erzählung vom Himmel in die Hölle sehen kann. Doch wenn all mein Ansehen der Hilfsbedürftigkeit anderer mein Herz hart bleiben lässt, bin ich der Elendste unter den Menschen.
Das ist es, was dem Reichen anzulasten ist. Er hat das Elend, die Hilflosigkeit und den Hunger des Lazarus genau vor seiner Tür. Aber er hat keine Liebe für Lazarus. Er sieht die Bedürftigkeit seines Nächsten und will sie nicht sehen. Er gibt ihm nicht zu essen, er kleidet ihn nicht und heilt nicht seine Wunden. Lazarus ist ihm der Nächste, doch er liebt ihn nicht. Dabei würde ihn das nur einen geringen Teil seines Reichtums kosten. Der Anblick des Leides muss doch genügen, um Mitleid und die ihm gemäße Menschenliebe und Hilfsbereitschaft zu wecken.
Jesus erzählt diese Geschichte nicht, um mich vor Bestrafung zu warnen, sondern um mein Herz aufzufordern, sich den Lazarussen dieser Welt zuzuwenden. Wer von der Liebe Jesu angeregt ist, wird auch andere Menschen in Liebe ansehen.
Ich kenne eine ganze Menge Lazarusse, die mein Herz anrühren und die Hilfe brauchen. Die eine Gerechtigkeit brauchen, die die Gnade und die Liebe kennt: sozial verelendete Menschen in den Städten, Bettler, die so manchen Sonntag, wenn wir Gottesdienst feiern, vor unserer Kirche sitzen.
Ich denke an die Straßenkinder auch hier in Berlin und an die Arbeitslosen. Sie brauchen mein Mit-Leiden, meine Liebe und ganz sicher auch einen entbehrlichen Teil meiner Habe, damit sie leben können.
Die Erzählung vom reichen Mann und armen Lazarus zeigt, wie die Welt sonst aussehen würde. Sie ist die Hölle. Gottes Gerechtigkeit ist anders. Niemanden vor der Tür zu übersehen, niemanden ohne Zuwendung einfach draußen lassen, niemanden ohne Herz begegnen, das ist die konkrete Gestalt der Nächstenliebe, die Jesus mich lehren will. Und wo dies geschieht, da wird eine andere Gerechtigkeit offenbar. Die Gerechtigkeit, die Gnade heißt. Sie ist die Gerechtigkeit Gottes, der niemanden verelenden sehen will, sondern jeden Menschen in Liebe bei sich bergen möchte. Das ist ein viel schönerer Traum, als der von der ausgleichenden Gerechtigkeit. Von ihr will ich mich leiten lassen, wenn ich das nächste Mal Lazarus begegne!
Thilo Haak, Pfarrer der Osterkirche in Berlin-Wedding

Foto: By WolfD59, Public Domain, wikimedia-commons
Das sollten alle können
Predigttext zum 26. Juni 2022
2. Sonntag nach Trinitatis: Jona 3,1-10
Und als Jona anfing, in die Stadt hineinzugehen, und eine Tagereise weit gekommen war, predigte er und sprach: Es sind noch vierzig Tage, so wird Ninive untergehen. Da glaubten die Leute von Ninive an Gott und riefen ein Fasten aus und zogen alle, Groß und Klein, den Sack zur Buße an.
Jona 3,4+5
Da stimmt etwas nicht mit dieser Geschichte. Die Stadt Ninive ist viel zu groß. Die Predigt des Jona ist viel zu kurz. Er sagt gerade mal einen Satz, ohne jemanden direkt anzusprechen. Die Menschen glauben ihm trotzdem sofort. Der König ist zu einsichtig. Und das Fasten, das er ausruft, ist maßlos übertrieben. Sogar Tiere müssen auf Nahrung und Wasser verzichten und in Sack und Asche gehen. Ein Rind im Büßergewand? Schafe, die nichts trinken dürfen? Ein König und sein Volk, die auf einen fremden, dahergelaufenen Mann hören? Alles an dieser Geschichte des kleinen Propheten, der im großen Bauch eines Walfischs ausharrte, ist übertrieben.
Da stimmt etwas nicht mit dieser Geschichte. Jona, der meinte, er könne sich vor Gott verstecken, Jona, der lustlos von Ninives Untergang sprach, wird zum erfolgreichsten Propheten der Bibel und noch dazu gegenüber einem fremden Volk! Was haben all die anderen sich bemüht! Jesaja, Jeremia, Hesekiel und wie sie alle heißen. Sie haben ihr ganzes Leben in den Dienst Gottes gestellt. Sie sind immer wieder vor das Volk Israel und seine Könige getreten und haben wortgewaltig Gottes Wort verkündet, haben gerungen, gehadert, gelitten und sind immer wieder gescheitert. Volk und König blieben verstockt. Doch ausgerechnet der geflohene, wortkarge Prophet bewirkt die Umkehr eines ganzen Volkes in Ninive.
Da stimmt etwas nicht mit dieser Geschichte. Das kann nicht ernst gemeint sein. Hier macht sich doch jemand lustig über einen verschluckten Propheten, über den fremden König und sein treues Volk. Sie alle erscheinen einfältig und tollpatschig und dabei auch irgendwie liebenswürdig. Gott ist von diesen Menschen in der Geschichte gerührt und er nimmt sich ihrer an. Könnte es sein, dass der/die Autor:in mit dieser überzeichneten Geschichte zeigen möchte, dass es doch gar nicht so schwer ist, Gottes Wort weiterzusagen und danach zu handeln? Das sollten alle können, ob Prophet oder nicht, ob Volk Israel oder die Menschen in Ninive. Denn Gott ist ein gnädiger Gott.
Über Gott macht sich diese Erzählung nicht lustig. Jona selbst beschreibt ihn als gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte, allerdings mit einem vorwurfsvollen Unterton (4,2). Denn seiner Meinung nach sollte er gegenüber diesem fremden Volk gerade nicht gnädig sein. Doch Gott steht über den Wünschen dieses Boten. Er ist frei, Reue zu zeigen und Urteile zurückzunehmen. Er setzt sich über menschliche Grenzen hinweg und kann seine Gnade einem fremden Volk und dessen Tieren gewähren.
Da stimmt die Geschichte dann wieder: Gott ist tatsächlich gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte gegenüber allen Menschen.
Pfarrerin Meike Waechter,
Referentin für Gemeindedienst im Berliner Missionswerk